
Blick in das Protokollbuch der Bäcker-Innung Aschaffenburg (v. l.): Mit dem Zeitdokument gewannen die beiden Bäckermeister Georg und Klaus Hench Einblick in die Auswirkungen der Gleichschaltung durch das NS-Regime auf die Innungsstrukturen.
Handwerksgeschichte trifft Familiengeschichte
Behutsam hebt Georg Hench das Protokollbuch aus einem der grauen Kartons und legt es vorsichtig auf der Schaumstoffunterlage ab. Der schwarze Einband trägt in Handschrift die Aufschrift "Protokollbuch der Bäcker-Innung Aschaffenburg", darunter steht der Zeitraum 8. März 1932 bis 19. März 1963 geschrieben. Obwohl das Papier im Inneren mit der Zeit schon deutlich dünner geworden ist, sind die Aufzeichnungen in alter Sütterlinschrift noch gut erhalten. Dasselbe trifft auch auf den Jubiläumsband zu, den er als nächstes aus dem grauen Karton holt. Er hat einen Ledereinband mit goldener Prägeschrift, die Bäckerinnung Aschaffenburg hat ihn 1930 anlässlich ihres 40-jährigen Bestehens herausgegeben. Als "wahren Schatz" bezeichnet der Bäckermeister aus Aschaffenburg die beiden Fundstücke, die im Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg lagern. Denn Zeitdokumente wie diese seien größtenteils zerstört oder nicht mehr auffindbar. Um ihren Inhalt für künftige Generationen zu bewahren haben Georg Hench, sein Verwandter Klaus Hench aus Miltenberg und dem Geschichtsprofessor Frank Jacob beide Bücher wissenschaftlich aufgearbeitet und als so genannte Quellenedition veröffentlicht. Sie ist eine Annäherung an den Handwerksalltag in der Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg auf Ebene einer lokalen Innung, der Bäckerinnung Aschaffenburg.
Ein Bild aus dem Jahr 1933, es zeigt Mitglieder der Bäckerinnung Aschaffenburg.
Wertvoller Blick zurück
"Die Zeit des Nationalsozialismus war in unserer Familie immer ein blinder Fleck", erinnern sich die beiden Bäckermeister. Kaum jemand habe darüber gesprochen. Umso größer sei ihre Neugier gewesen, als sie die beiden Bücher entdeckten, berichtet Georg Hench, auch weil darin der Name seines Urgroßvaters auftauchte, der zur damaligen Zeit im Vorstand der Innung aktiv war und im Zuge der Gleichschaltung im Jahr 1933 zum Obermeister bestimmt wurde. Mit dem Protokollbuch gewannen sie Einblick in die Auswirkungen der Machtergreifung der Nationalsozialisten auf die Bäckerbetriebe der Innung in Aschaffenburg. „Insgesamt ergibt sich ein differenziertes Bild“, erklärt Klaus Hench. Die Protokolle der Innungsversammlungen zeigen, wie sich die Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre auf lokaler Ebene auf das Bäckerhandwerk ausgewirkt hat. Es herrschte hohe Arbeitslosigkeit, die Inflation ließ die Preise explodieren. „Die Bäcker setzten zu dieser Zeit durchaus Hoffnungen in das Hitler-Regime, es könne diese Notlage bekämpfen“, erläutert Klaus Hench. Die Protokolle zeigen auch, wie schnell die nationalsozialistischen Strukturen den Innungsalltag durchdrangen. Die Quellenedition beleuchtet zudem die Nachkriegsjahre bis 1952. Im Protokoll der ersten Versammlung nach Kriegsende im Mai 1946 ist beispielsweise zu lesen: "Der Vorschlag von Herrn Faulstich eine "Geschichte des Bäckerhandwerks unserer Stadt während der Kriegszeit“ zu schreiben (…) fand lebhaften Beifall." Realisiert wurde dieser Vorschlag nicht, wohl auch, weil er sicherlich viele kritische Fragen zur Rolle von Innung und Betrieben während des Nationalsozialismus aufgeworfen hätte, so die Schlussfolgerung der Herausgeber der Quellenedition.
"Die Zeit des Nationalsozialismus war in unserer Familie immer ein blinder Fleck."
Georg und Klaus Hench, Bäckermeister
Private Forschungsinitiative
Mit ihrem Buchprojekt haben Georg und Klaus Hench in privater Initiative einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung regionaler Handwerksgeschichte geleistet. Klaus Hench kam dabei zugute, dass er die alte Sütterlinschrift lesen kann. "Zunächst einmal galt es, diese Schrift zu übersetzen", gibt der 80-Jährige Einblick in seine Arbeit. Parallel durchforstete Georg Hench weitere Quellen wie Zeitungsarchive und NSDAP-Akten, die im Documents Center in Berlin einsehbar sind. Aus ihnen erfuhr er Details über seinen Großvater. "Er hatte sich zunächst verweigert, den Eid auf den neuen Führer Adolf Hitler abzulegen. Ich habe offizielle Schreiben entdeckt, in denen ihm deshalb gerichtliche Konsequenzen angedroht wurden, so dass er schließlich doch nachgegeben hat", berichtet Georg Hench von der Einsicht der Akten und ergänzt: "Es ist erschreckend zu sehen, wie wenig Spielraum es unter den herrschenden Strukturen für individuelle Entscheidungen gab."
Für Klaus und Georg Hench ist das Buch mehr als nur ein Stück Handwerksgeschichte. "Es soll eine Mahnung sein, die Vergangenheit niemals zu vergessen", betont Klaus Hench, gerade jetzt und in diesen Zeiten.
"Das Buch soll eine Mahnung sein, die Vergangenheit niemals zu vergessen."
Klaus Hench, Bäckermeister
Auszeichnung für Buchprojekt
Für ihr Buchprojekt erhielten Georg und Klaus Hench und der Historiker Frank Jacob 2024 den vom Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) ausgelobten "Preis für Handwerksgeschichte". In der Laudatio würdigte die Jury es als "guten Ansatz zur Annäherung an die Alltags- und Konsumgeschichte im „Dritten Reich“, nicht zuletzt unter dem politisch aufgeladenen Aspekt der Ernährungssicherheit." Es zeige nüchtern die Bandbreite der Rahmenbedingungen, die Zwänge, aber auch die freiwillige Beteiligung und Mitwirkung am NS-System.
Der Preis für Handwerksgeschichte ist aktuell erneut ausgeschrieben. Bewerbungen können Handwerksbetriebe und Handwerksorganisationen bis spätestens 16. Juni 2025 einreichen. Weitere Infos zum Preis für Handwerksgeschichte 2026